Der simple männliche Orgasmus?

Weshalb der männliche Orgasmus nicht so simpel ist, wie man ihn uns weismachen will

Ein Artikel aus RebelleSociety von Jeremiah Barnes*
übersetzt von Nicole Strübin

Wo auch immer man schaut, gibt es die gemeinsame Überzeugung, die weibliche Sexualität sei wie ein mystischer, geheimer Garten, eine Kunstform, während die männliche Sexualität wie ein einfacher Algorithmus ist.

Frauen benötigen Stunden bis zum Orgasmus (wenn sie überhaupt zum Orgasmus kommen).
Männer brauchen einen festen Griff und 5 bis 7 Minuten Reibung.

Frauen brauchen emotionale Sicherheit um loszulassen.
Männer brauchen einen festen Griff und 5 bis 7 Minuten Reibung.

Frauen müssen wie eine Göttin behandelt werden, mit Weihrauch, ausgiebigem Vorspiel und Massageöl.
Männer brauchen einen festen Griff und 5 bis 7 Minuten Reibung.

Erahnen Sie worauf ich anspiele? Da ist eine Dysbalance! Und ich frage: Ist da wirklich eine? Oder wäre es möglich, dass wir bei männlicher Sexualität einen falschen Blickwinkel einnehmen? Ich denke das tun wir. Wenn die Medien über männliche Sexualität schreiben, dann über einen sehr oberflächlichen Teil davon.

Als jemand, der sich in seinem Erwachsenenleben der Sexualität sehr aufgeschlossen näherte, und mit verschiedenen Settings, Techniken und Traditionen experimentierte, würde ich sagen: Da gibt es noch viel mehr in der männlichen Sexualität als uns in der Regel bekannt ist.

Also, was läuft da eigentlich falsch? Mehrere Dinge.

Da gibt es ein grosses Thema bezüglich Sensitivität, bzw. Empfindlichkeit

Eines der wichtigsten Probleme, die ich im Mainstream-Sex ausmache ist, dass Männer von den Empfindungen in ihrem Genital** abgetrennt sind.

Ja, genau … also dasselbe Problem, welches offenbar viele Frauen auch haben.

Die Ursache ist jedoch eine andere: Männer haben häufig schlechte «Selbstvergnügungs-Gewohnheiten».

Viel zu viele Männer leiden an der einen oder anderen Form des „Todesgriffes“. Und haben dadurch wertvolle Empfindsamkeit in ihrem Genital verloren, welches allzu oft mit einem zu festen Griff angefasst wird. Dieses Problem findet man überall im Internet.

Aber die meisten Männer handeln erst, wenn es schon ziemlich spät ist: Nämlich wenn sie in der Frau oder bei oraler Stimulation nicht mehr kommen können, sondern nur noch von Hand (vorzugsweise durch die eigene Hand, weil der Griff der Partnerin zu schwach ist).

Die zweite Konsequenz der schlechten Masturbationsgewohnheiten ist zu häufige Ejakulation. So wenig sich Männer das eingestehen wollen, weiss doch jeder, dass es wahr ist.

Erinnern Sie sich an Zeiten, als Sie während einer Woche nicht ejakulierten und dann Sexualität lebten? Eine vollkommen andere Erfahrung!

Weniger häufig zu ejakulieren ist für die meisten Männer keine Option, weil im Mainstream der Orgasmus der Ejakulation gleichgesetzt wird. Das ist eine sehr einschränkende Überzeugung, die es sich lohnt zu überdenken. Mehr dazu später in diesem Artikel.

Die Stimulation geschieht meist lokal

Sehr verbunden mit dem Mangel an Sensibilität da unten, ist die Tatsache, dass die männliche Sexualität häufig auf da unten begrenzt ist.

Bei Frauen muss ihr gesamter Körper «aufgewärmt» werden, bevor sie für genitale Stimulation bereit sind. Männer sind … dazu geboren, sofort bereit zu sein.

Aber was Männer eigentlich statt des Vorspiels brauchen, ist das Nachspiel oder „Während-Spiel“. Grundsätzlich sind dies Ganzkörperstimulationen und Empfindungen während oder nach hohen Erregungszuständen.

Ein Tantra-Lehrer hat mich als Erster auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht und ich finde es äusserst interessant … Wenn Sie so wollen, ist es ein Spiegelbild der anatomischen Struktur der Genitalien: Für Frauen geht es von aussen nach innen. Von Ganzkörper-Stimulation zu lokaler Stimulation. Bei Männern geht es von innen nach aussen. Von der lokalen Stimulation zur Ganzkörper-Stimulation.

Das ist ziemlich magisch!

Und fast kein Mann macht das mit sich selbst, wenn er masturbiert. Noch bitten sie ihre Partner darum, es zu tun.

Probieren Sie es einmal aus, Sie werden überrascht sein!

Die Auswirkungen der Geschlechterrollen

Nebst all dem, was ich weiter oben angesprochen habe, sind weitere Gründe, weshalb die männliche Sexualität als begrenzt und einfach angesehen wird, die Auswirkungen der Geschlechterrollen auf unser Sexualverhalten.

Die meisten Männer geniessen es der „Eindringende“ zu sein und übernehmen die dominante Rolle, welche damit einhergeht. Eine Rolle die, zumindest emotional, sehr einfach ist. Und es ist nichts Falsches daran – auch ich persönlich geniesse diese Praktik die meiste Zeit über. Aber sie ist eben nicht alles!

Der gesamte emotional-verletzliche Aspekt der Sexualität, der sehr präsent in weiblichen Orgasmen ist, wie wir sie kennen, steht auch Männern zur Verfügung. Aber fast jedem Mann ist der Zugang dazu blockiert.

Ein Mann, der zu weinen beginnt, während er Liebe macht, ist leider nicht etwas, für was die Menschheit bereit zu sein scheint. Aber es ist wunderschön. Und nur eine Facette einer grossen Bandbreite von Emotionen, die Männer zu vermeiden versuchen.

Männer sind genausogut in der Lage sich beim Lieben hinzugeben, aber die Geschlechterrollen verhindern noch oft, dass sie dies auch tun.

Samenerguss ist nicht gleich Orgasmus

Jetzt kommt, was ich als den wichtigsten Aspekt dieses Artikels erachte:

Praktisch alle unterschätzen die Komplexität der männlichen Sexualität.

Der Hauptgrund dafür ist, dass im Allgemeinen die Ejakulation dem Orgasmus gleichgesetzt wird. Dies ist … unglaublich traurig. Und unglaublich falsch!

Genauso wie Frauen sind auch Männer dazu fähig, die verschiedenartigsten Orgasmen zu erleben. Seichte Orgasmen, tiefe Orgasmen, spitze Orgasmen, multiple Orgasmen, Vollkörper-Orgasmen. Und nicht alle davon beinhalten eine Ejakulation.

Den männlichen Orgasmus auf den gängigen Ejakulations-Orgasmus zu beschränken, ist wie den weiblichen Orgasmus auf den klitoralen Orgasmus zu begrenzen.. Es ist einfach nur … beschränkt!

Weshalb schwirrt also dieser limitierende Gedanke da draussen herum?

Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung. Ich bin eigentlich ziemlich entgeistert über diese Tatsache. Es ist ja nicht so, dass niemand darüber spricht und andere Wege lehrt.

Da ist z. B. Mantak Chia mit seinem Bestseller-Buch „Öfter, länger, besser: Sextipps für jeden Mann“, Barbara Kesslings Buch „Liebe machen die ganze Nacht hindurch„. Weiterhin Tantra und Taoismus, die all dies seit Jahrhunderten vermittelt haben. Es gibt viele moderne Sex-Coaches, die Menschen darin unterstützen dorthin zu kommen.

Lassen Sie mich Ihnen aber aus eigener Erfahrung sagen, dass es kein Spaziergang ist, es zu lernen. Weil wir uns mit all dem auseinander setzen müssen, was ich im Artikel beschrieben habe.

Ich kann hier nicht ins Detail gehen, wie das zu erreichen ist. Aber schauen Sie doch mal in eines der beiden genannten Bücher oder besuchen Sie einen Tantra-Workshop.

Es gibt so viel mehr!

Okay, schauen wir also mal, was wir jetzt wissen:

  • Die meisten Männer leiden unter geringer Empfindsamkeit in ihrem Genital aufgrund unvorteilhafter Masturbationsgewohnheiten.
  • Männer werden lokal stimuliert. Sie benötigen kein Vorspiel an sich, sondern eher Ganzkörper-Stimulation während hohen Erregungszuständen.
  • Die meisten Männer können sich nicht gehen lassen und ihre Verletzlichkeit zeigen während dem Liebe machen, aufgrund der Geschlechterrollen und gesellschaftlicher Einschränkungen.
  • Die gängige Überzeugung ist, dass der männliche Orgasmus sich auf den Ejakulations-Orgasmus beschränkt.

Mit diesen Punkten vor Augen, ist es nicht verwunderlich, dass die männliche Sexualität im Allgemeinen als sehr primitiv angesehen wird.

Aber stellen Sie sich vor diese vier Probleme würden gelöst.

Das würde bedeuten:

  • Männer spürten tatsächlich Empfindungen in ihrem Genital. Sie wären in der Lage die Vaginalwände zu spüren, den geschwollenen G-Punkt, den Eingang des Muttermundes.
  • Männer könnten orgastische Empfindungen über den gesamten Körper ausbreiten, anstatt diese nur lokal zu erleben.
  • Männer könnten sich hingeben und gehen lassen während dem Liebemachen, anstatt auf die Rolle des mechanisch Eindringenden beschränkt zu sein.
  • Männer könnten multiple Orgasmen haben.
  • Männer könnten wählen, ob sie ejakulieren wollen oder nicht. Es stünde ihnen eine riesige Auswahl an verschiedenen Orgasmen zur Verfügung.

Würden Sie unter diesen Umständen noch behaupten, der männliche Orgasmus sei einfach und mechanisch?

 

Die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen wurde freundlichst genehmigt von Soumyajeet “Jeet” Chattaraj (Chef-Herausgeber von „Rebelle Society“, einem Online-Magazin). Direkter Link zum Artikel: www.rebellesociety.com

*Jeremiah Barnes ist Life-Coach und Autor für www.omooni.com. Er widmet sich der Entwicklung des Potenzials bewusster Sexualität, als Teil der persönlichen Entwicklungs-Reise. Inspiriert durch das Studium und Leben in verschiedenen tantrischen Umgebungen in Asien innerhalb der letzten 10 Jahre, ist Tantra, in Kombination mit der modernen Wissenschaft, die Basis für die meisten seiner Lehren und Schriften.

** Bitte verzeiht mir die Bezeichnungen. Google ist leider unerbittlich wenn es um die präzisen Bezeichnungen des Genitals geht.

 

Bildquelle: Mann im Wasser: ©korionov 102195233 / bigstockphoto.com