Manchmal machen wir negative Erfahrungen in der Sexualität und entscheiden uns ganz bewusst, uns dem nicht mehr auszusetzen.
Gar nicht so selten ist es aber auch, dass wir uns teilweise an negative Erfahrungen nicht mehr erinnern. Trotzdem können solche Ereignisse z. T. gravierende Auswirkungen haben: Auf die Fähigkeit sich auf Beziehungen einzulassen, sich an der Sinnlichkeit unseres Körpers zu freuen, lustvoll orgasmisch sein zu können und anderes mehr.
Was uns auch prägen kann, sind Erfahrungen, welche unsere Eltern und Grosseltern mit der Lust gemacht haben. Diese können von Generation zu Generation weiter gegeben werden. Kommen wir aus einer der Lust eher abgeneigten Familie, ist es meist deutlich schwieriger eine positive Beziehung zum Körper und zur Sexualität zu finden.
Waren wir gar körperlichen, sexuellen oder emotionalen Grenzüberschreitungen ausgesetzt (was auch Missbrauch genannt werden könnte), ist der Zugang zum positiven Spüren, zur vertrauensvollen Öffnung einem anderen Menschen gegenüber, häufig mit viel mehr Schwierigkeiten verbunden. Es fehlt sozusagen die Erfahrung, dass die eigenen Grenzen respektiert werden. Dies kann sich auf ganz verschiedene Arten auf den Bezug zu uns selbst und zu anderen Menschen auswirken.
Zwei Formen davon sind: Schwierigkeiten dauerhaft intime Beziehungen einzugehen oder Mühe die eigenen Grenzen zu erkennen und zu wahren.
Die Scham in uns
Säuglinge und Kleinkinder sind in der Regel total unbelastet und neugierig. Dies gilt auch für ihren eigenen Körper: Sie erkunden ihre Genitalien genau so, wie sie andere Körperteile erkunden. Das, was sich dabei besonders gut anfühlt, wird wiederholt … ist ja logisch!
Mit zunehmendem Alter wird es aber von den Reaktionen seines Umfeldes beeinflusst. Dabei können Scham und Abwertung auftauchen. Ein Kind kann z. B. durch solche Reaktionen den Eindruck bekommen, etwas stimme nicht mit ihm oder es habe etwas ganz, ganz Schlimmes getan.
Solche Erfahrungen als Kind können sich tief ins Unterbewusstsein eingraben, da sie nicht hinterfragt werden konnten. Weshalb? Ein kleines Kind hat von der Reife her diese Fähigkeit noch gar nicht zur Verfügung und ein älteres Kind kann die Autorität der Erwachsenen meist nicht in Frage stellen, bzw. muss Bestrafung befürchten.
Zwei Beispiele dazu:
Eine Männergeschichte
Eine Tante macht beim Baden ihres 6-jährigen Neffen, als dieser sich bedecken will, eine humorvolle Bemerkung, dass er doch so einen kleinen «Schnäbi» nicht verstecken müsse. Harmlos? Vielleicht … aber dieser Neffe stand mit 51 Jahren in meiner Praxis, wollte wissen, ob er wirklich so einen „Kleinen“ hätte und drückte aus, dass er sein ganzes Leben lang deswegen immer Angst empfunden hatte, sich mit einer Frau einzulassen und aus dieser Angst heraus auch unzählige Momente des Versagens erlebt hatte.
Eine Frauengeschichte
Eine 47-jährige Frau teilt mir mit, dass sexuelle Begegnungen sie sehr viel Überwindung kosteten. Im Verlauf der Sitzung taucht, bei eigener sanfter Berührung ihres Unterbauches, plötzlich eine Erinnerung auf:
Als 7-Jährige wurde sie von ihrer Mutter dabei überrascht, wie sie mit zwei Nachbarsjungen „Doktor-Spiele“ machte. Die Mutter schrie sie vor den Jungen an, so etwas Schmutziges mache man nicht, zerrte sie ins Haus und versohlte ihr den Po.
Dieses Schlüsselerlebnis „tränkte“ offenbar ihre Sexualität mit einem tiefen Gefühl der Scham, welches sie daran hinderte ihre natürliche Lust geniessen zu können.
Auswirkungen solcher Erfahrungen
Beispielhaft sind diese beiden Geschichten dafür, wie Abwertung oder Beschämung im sexuellen Bereich uns so dermassen tief treffen können, dass sie unsere Fähigkeit Sexualität zu geniessen vermindern oder gänzlich verhindern.
Erfahrungen aus der eigenen Familie
Hat eine Grossmutter eine Abneigung gegen Sexualität, wird sie ihrer Tochter und Enkelin nur sehr schwer Freude daran vermitteln können. Fühlt sich ein Grossvater von den Frauen abgewertet, wird er kaum ein gutes Frauenbild an die nächsten Generationen vermitteln können. Weder an seine männlichen, noch an seine weiblichen Nachfahren.
Solche negativen Wertungen und Einstellungen werden manchmal offen ausgesprochen („Männer wollen eh immer nur das Eine“, „Frauen rauben dir zuerst deinen Verstand, dann deine Freiheit“, etc.), aber zuweilen sind sie auch „nur“ unausgesprochen im Raum und zeigen sich auf nonverbale Art und Weise: Ein missbilligender Blick, ein Gesichtsausdruck oder eine Geste können ganze Geschichten von Abwertung erzählen und genau so prägend sein.
Diese „Wertungs-Brille“ färbt dann sozusagen die Sicht auf das eigene, das andere Geschlecht und die Sexualität ein. Leider ist es häufig so, dass wir das Tragen solch einer Brille gar nicht bemerken und so die Realität «verzerrt» sehen. Wenn ich z. B. grundsätzlich nicht viel von Männern halte, werde ich Positives in der Regel gar nicht wahrnehmen, sondern im Gegenteil abwerten.
Grenzüberschreitungen
Grenzüberschreitungen im Kindesalter oder der Pubertät können in sehr vielen Schattierungen daher kommen. Sie passieren, wie wir alle wissen, auch nicht nur Frauen. Die Auswirkungen können sehr vielschichtig sein, wie untenstehende Beispiele aufzeigen:
Überbehütung
Eine Mutter lässt ihrem Sohn (z. B. aus Angst oder weil sie sich nach Liebe sehnt, die sie woanders nicht erhält), kaum eigenen Raum. Sein Bedürfnis, zuweilen auch alleine die Welt zu erkunden, wird nicht respektiert. Wenn er sich (von ihr weg) der Welt und anderen Menschen zuwendet, reagiert sie mit Kontrollversuchen und zuweilen emotionaler Erpressung.
Darauf kann ein Sohn mit aktivem oder passivem Widerstand reagieren. Entweder er rebelliert offen und riskiert dadurch die Liebe der Mutter zu verlieren oder er gibt ihren Wünschen im Aussen nach, zieht sich aber emotional in seine eigene Welt zurück.
Im ersteren Fall kann es sein, dass man als Mann später jede potentielle Partnerin als Bedrohung der eigenen Freiheit erlebt und deshalb tunlichst vermeidet, sich in irgendeiner Form verbindlich einzulassen. Im letzteren wird der Mann in der Beziehung alles versuchen, um seine Partnerin zufrieden zu stellen (was unglaublich anstrengend sein kann), aber wird sich in der Regel emotional immer mehr zurück ziehen.
Zu viel Verantwortung
Ist ein Elternteil depressiv, Süchten unterworfen oder kommt aus einem anderen Grund mit sich selber und der Aussenwelt nicht klar, kann es sein, dass das Kind immer mehr Verantwortung trägt. Das Kind schlüpft dann sozusagen teilweise oder ganz in die Erwachsenenrolle: Es ist um die emotionale Stabilität des Elternteils besorgt und übernimmt auch andere „Erwachsenen-Aufgaben“.
Die Folgen davon im Erwachsenenleben können sein, dass man sich in Partnerschaften dann genau so verhält. Man übernimmt zu viel Verantwortung für seinen Partner und nimmt ihm die Chance, sich in gewissen Bereichen zu entwickeln. Zwar fühlt es sich zuweilen gut an, weil es befriedigend ist, für jemand anderen wichtig zu sein. Andererseits kann man sich aber damit total überfordern, was im Extremfall bis zu einem Burnout führen kann.
Körperliche Gewalt
Wird ein Kind systematisch und wiederholt geschlagen und gedemütigt, hinterlässt dies tiefe Spuren in der Seele und dem Körper.
Eine Konsequenz davon kann sein, dass wir als Erwachsene körperlich weniger spüren, wenn uns z. B. jemand streichelt. Weshalb? Weil der Körper darauf angelegt ist zu überleben und sich zu schützen. Damit wir weniger leiden müssen, wird er unempfindlicher. Leider aber auch unempfindlicher für Schönes.
Weitere mögliche Folgen sind, dass es schwierig sein kann jemandem zu vertrauen und sich zu öffnen. Nicht selten bleibt aus solch schmerzhaften Erfahrungen ein tiefes Misstrauen hängen. Unter solchen Umständen ist es auch extrem schwierig einen gesunden Selbstwert zu entwickeln.
Sexuelle Übergriffe
Das Spektrum in diesem Bereich ist relativ gross: Von sexuellen Übergriffen durch nahe Bezugspersonen, über häusliche sexuelle Gewalt, bis zur Vergewaltigung durch jemand Fremden.
Die Auswirkungen solcher Ereignisse reichen von totalem Rückzug bis zu hoher sexueller Aktivität, bei der man sich jedoch wenig spürt und sich deshalb zuweilen auf Dinge einlässt, die einem nicht wirklich gut tun. Destruktivität gegen sich selbst oder andere kann auch eine Folge davon sein. Des weiteren der Eindruck nicht wirklich „hier“ zu sein (z. B. das Leben wie einen Film zu empfinden, der ausserhalb von einem selbst abläuft).
Weiterhin ist es möglich, dass solche Traumata Auswirkungen auf unsere Gesundheit haben, weil die Folgen von Trauma die Widerstandsfähigkeit des Körpers herabsetzen können.
Übergriffe sind nicht selten gar nicht im Bewusstsein, weil sie entweder sehr früh geschahen oder (zum eigenen Schutz) verdrängt wurden. Im Körper können sie sich aber trotzdem manifestieren: Unter anderem indem man an einzelnen Stellen des Körpers wenig bis gar nichts spürt. Zuweilen können sich beim Sex auch unerklärliche Schmerzen einstellen, Gefühle hoch kommen, die irgendwie nicht recht zur momentanen Situation passen wollen (tiefe Trauer, Wut, sich vom eigenen Körper abgeschnitten fühlen, etc.) oder es kann Ekel empfunden werden.
Übergriffe in der Ahnenlinie
Übergriffe in der Ahnenlinie können sich ebenfalls auf die folgenden Generationen auswirken. Weshalb? Weil Verhaltensmuster, welche aus dem Übergriff entstanden sind, weiter gegeben werden.
Ein Hauptproblem ist der Umstand, dass darüber meist nicht gesprochen wird. Dies hat damit zu tun, dass Betroffene häufig tiefe Scham empfinden. Das führt dazu, dass folgende Generationen zwar die Auswirkungen der Übergriffe in ihrem Leben spüren, diese aber absolut nicht zuordnen können. Das kann sehr irritierend sein.
Ein Beispiel dafür können Frauen sein, welche ihre eigenen sexuellen Bedürfnisse denjenigen der Männer ständig unterordnen. Die Befriedigung des Mannes steht über allem … auch über möglichen Schmerzen der Frau beim Sex. Hauptsache er «kommt»!
Was tun mit all dem?
Viele Menschen haben Erfahrungen hinter sich, die alles andere als schön und aufbauend waren. Das kann sehr belastend sein und andererseits kann daraus auch eine Chance erwachsen, die einem reifen und wachen lässt.
Pflanzen machen uns das vor: Sie wachsen teilweise unter unmöglichen Bedingungen und trotzdem gelingt es ihnen, für ihre Verhältnisse, ein Maximum an Gedeihen hervorzubringen.
Wie man mit schwierigen Erfahrungen letztendlich umgeht, ist sehr individuell und es gibt da meines Erachtens kein Richtig oder Falsch. Jeder Mensch findet seinen ureigenen Weg damit.
Im Nachfolgenden möchte ich ein paar mögliche Wege kurz beschreiben, auf denen ich Menschen begleite die etwas ändern möchten.
Wiederentdeckung der Lust, aber wie?
Grundsätzlich: Es ist möglich wieder mehr Freude und Lust zu empfinden!
In einzelnen Fällen und je nach Thema reicht schon ein Gespräch. Zuweilen geht man aber auch über eine gewisse Zeitdauer einen Weg zusammen, in dem möglichst alle relevanten Ebenen (Körper, Gefühle, Verstand, äussere Umstände) mit einbezogen werden.
Muster erkennen und auflösen
In Bezug auf Prägungen, Scham und Abwertungen kann es wichtig sein diese ins Bewusstsein zu bringen. Erst wenn ich weiss, wer mein „Gegner“ ist, kann ich den Kampf mit ihm aufnehmen, bzw. ihn neutralisieren. Dies kann z. B. durch Gespräche geschehen, in denen Wertungen hinterfragt und neu definiert werden. Dient mir eine bestimmte Wertung oder behindert sie mich? Welche Wertung wäre für mich persönlich stimmig?
Wertungen, die im Unterbewusstsein schlummern, zeigen sich in der Praxis auch häufig in der Arbeit mit dem Körper. Einmal aufgedeckt, können sie verändert werden.
Es kann z. B. sein, dass man seinen Körper total in Ordnung findet, aber wenn eine bestimmte Stelle berührt wird, sich urplötzlich Widerstand meldet. Über die Erforschung des Widerstandes findet sich sozusagen dann der Lösungsansatz.
Systemik
Auch das systemische Coaching kann sehr viel in Bewegung bringen, indem man aufdeckt, welche behindernden Muster aus dem Familien-System wirken.
Ein Beispiel dazu wäre ein Mann, der als Kind kein männliches Vorbild hatte, weil sein Vater in seiner männlichen Kraft geschwächt war. In der Folge kann er deshalb selber auch keinen soliden Stand in der Männlichkeit entwickeln.
Ein anderes eine Frau, deren Vater die Frauen abwertete. Aus Liebe zu ihm fördert sie in sich selbst mehr männliche als weibliche Eigenschaften.
Im Coaching wird in beiden Fällen das gestärkt, was gefehlt hat.
Der systemische Ansatz ist äusserst effektiv und ebenso bei Beziehungsschwierigkeiten sehr unterstützend, weil er die Dynamik im Paar aufzeigt und nachhaltige Veränderungen bewirkt.
Achtsame Berührungen/Massagen
Meine Erfahrung ist, dass man mit dieser Art von Berührungen, bzw. Massagen, dem Körper in einem Rahmen von Respekt und Sorgfalt, wieder die Gelegenheit geben kann, sich in seinem eigenen Tempo, der Freude und Lust zu öffnen.
Aber nicht nur das: Wir können in diesem sicheren Rahmen ebenso lernen die eigenen Grenzen besser zu spüren und zu respektieren.
Einer der Wegweiser ist hier das Wechselspiel zwischen Anspannung und Entspannung: Bei welchen Berührungen kann ich in der Entspannung bleiben und wo spanne ich an?
Die Möglichkeit mit dem Körper in solche Erfahrungsräume einzutauchen, ist für mich persönlich von unschätzbarem Wert und kaum durch etwas anderes ersetzbar.
Trauma
Tauchen im Verlauf einer Begleitung Hinweise auf schwerwiegendere Übergriffe aus der Vergangenheit auf, welche ein Trauma bewirkt haben, ist eine achtsame, umsichtige und den Umständen angepasste Vorgehensweise äusserst wichtig. Ich empfehle hier immer auch die Begleitung durch erfahrene Trauma-Therapeuten.
Therapeutische Ansätze, die ich (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) diesbezüglich empfehlen kann, weil auch körperorientiert, sind: SE (Somatic Experiencing), NARM (NeuroAffektives Relationales Modell) und SEI (Somatische Emotionale Integration). Eine wertvolle Unterstützung zur Heilung können auch TRE (Trauma Release and stress reducing Exercises) sein.
Zum Schluss
Wir Menschen verfügen über viele Fähigkeiten und Kräfte: Auch die Kraft, die uns Schwieriges überstehen lässt, die Hoffnung am Leben erhält und uns zur Heilung und Reifung tragen kann
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Nun hoffe ich, dass dir das Lesen des Artikels etwas geben konnte und weiter geht es mit dem 3. Teil der Serie «Keine Lust auf Sex?»: Das Müssen ist der Mörder der Lust/
Es grüsst dich
Nicole
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